An einem Samstagnachmittag im November 2022 rief mich meine Schwester an, um mir mitzuteilen, dass unsere Mutter im Sterben läge. Ein Schock.
Ich stand vor einem Depot auf dem Parkplatz und meine Welt hörte auf einmal auf sich zu drehen. In all den Gesprächen, die ich in den letzten Jahren über das Verhältnis zu meiner Mutter geführt habe, habe ich immer gesagt: Ich weiß nicht, was es mit mir machen wird, wenn meine Mum stirbt. Man muss dazu wissen, dass das Verhältnis zu meiner Mum in den letzten Jahren nicht mehr gut bis teilweise nicht mehr vorhanden war. Dieser Umstand hatte zu dem jeweiligen Zeitpunkt durchaus nachvollziehbare Gründe.
Meine Mutter und ich hatten viel durchgemacht – sie, ich und manchmal wir gemeinsam. Wir hatten es nicht einfach, jeder in unterschiedlichen Lebensphasen. Mit dem frühen Tod einer meiner Schwester gingen wir dann recht unterschiedlich um. Jahre später sollten meine Mum und ich mal ein Gespräch haben, wo wir feststellen würden, dass wir nie ein klassisches Mutter-Sohn-Verhältnis haben werden. Damit war die Sache für uns auch gegessen, irgendwie. Einige Lebensentscheidungen später wohnten wir in unterschiedlichen Teilen der Republik, was den Kontakt einschlafen ließ.
Nun stand ich da, und konnte zuschauen, wie nach über 30 Jahren eine Erinnerungsblase dieser Beziehung ihren Weg an die Oberfläche bahnte. Ich rang, nicht die Fassung zu verlieren. Wenn Not herrscht, schiebe ich meine Befindlichkeiten zur Seite und versuche das zu tun, was richtig ist. Tja, aber was war „richtig“? Meine Mutter hatte 5-7 Tage zu leben, ob sie die jeweilige Nacht überlebte, war nicht sicher. Ich weiß nicht, was es ist, aber in Extremsituationen stelle ich mir zwei Fragen: Was halte ich für die richtige Entscheidung? Wie denkt mein Zukunft-Ich über diese Entscheidung? Egal, wie ich mich oder eine meiner Schwestern sich entscheiden würden – jeder hat seine Entscheidung selbst zu tragen. Es gibt in dieser Situation kein richtig oder falsch. Ich hatte meine Mutter das letzte Mal etwa vor 5 Jahren persönlich gesehen.
Ich schlenderte etwas apathisch durch den Depot. Tausende Fragen schossen mir durch den Kopf, während mein Gefühlszentrum erschüttert war. Ich wusste, dass dieser Tag kommen wird. Ich hatte immer damit gerechnet, dass meine Mutter ähnlich alt wie meine Großmutter werden wird, welche mit Ende 70 verstarb. Aber als es dann so weit war, darauf war ich nicht vorbereitet. Für meine Schwester war klar, dass sie auf die Intensivstation fährt. Sie hatte all die Jahre Kontakt zu unserer Mutter. Will ich sie nochmal so sehen oder behalte ich die Erinnerung bei unserem letzten Treffen? Das Schlimme war eigentlich, dass meine Mutter und ich uns nichts zu sagen hatten. Wir wussten beide, dass sie immer versucht hat, eine gute Mutter zu sein und ich ein guter Sohn: Wir haben beide auf vielen Ebenen versagt. Wir wussten das beide, was uns eine gegenseitige Nachgiebigkeit verschaffte.
Meine Mutter hatte ihren Lebensmut verloren. Es stand für mich also die Frage im Raum, ob ich quer durch die Republik fahre. Durch den Tod meiner Schwester wusste ich, welch Trauma durch einen verpassten Abschied ausgelöst werden kann. Ich ging den folgenden Tag(e) in mich und fragte mich, was ich noch sagen könnte, wenn ich dorthin fahre. Es war nicht klar, ob sie bei meiner Ankunft noch ansprechbar sein wird, sofern sie noch am Leben wäre. Ehrlicherweise wusste ich auch nicht, was ich ihr hätte sagen sollen. Das klingt bitter. Es war die bittere Erkenntnis als Resultat unseres seltsamen Umgangs miteinander. Ich erkannte für mich nicht den Sinn darin. Es ist eine dieser emotional geschwängerten Situationen, wo es für sie keinen Unterschied machen würde – sie liegt im Sterben, da werden jetzt ein paar warme Worte meinerseits auch nicht helfen. Was ich auf keinen Fall wollte, die Situation mir irgendwie anzueignen. Nach langem Ringen habe ich mich dagegen entschieden, vermutlich, weil ich hoffte, dass sie dem Tod nochmal von der Schippe springen würde. Tat sie nicht.
Ich bereue nicht, dass ich mich gegen einen Besuch entschieden habe. Ich würde heute aber anders entscheiden. Dies ist vielleicht auch einer der Beweggründe, wieso ich diesen Text schreibe.
Am darauffolgenden Donnerstagmorgen war es so weit, das Telefon klingelte mich wach und ich ging schlaftrunken ran. Meine Mum war in der Nacht verstorben. Ich verbrachte den restlichen Vormittag damit, meine Trauer und meinen Schock zu verarbeiten. Den Rest des Tages verbrachte ich damit, wortlos vor der Glasfront nach draußen zu starren.
In den kommenden Monaten habe ich sehr viel über mich gelernt und konnte mir selbst beim persönlichen Wachstum zuschauen. So schnell und verändernd war der Sturm, der in mir herrschte. Ich habe auch viel über meine Mum gelernt und vieles erkannt. Es ist verrückt, wie verlorengeglaubte Kindheitserinnerungen wieder auftauchten. Der Tod meiner Mutter erlaubte meinem inneren Kind, den erneuten Zugang zu meiner Kindheit, an die ich vorher fast keine Erinnerung mehr hatte. Die ersten 10 Jahre bestanden aus Fragmenten, die ich bis dahin nicht zuordnen konnte.
Es ist seitdem Tod so viel an Erinnerung zurückkehrt, dass ich mich an vieles mehr erinnern kann. Es klingt fast bescheuert, aber mit deinem Tod, kamen auch die Erinnerungen zurück.
Ich fühle mich nun erwachsener, was auch immer das heißt. Ich habe etwas gebraucht, bis ich das größere Bild sehen konnte. Ich sehe eine alleinerziehende Mutter mit 4 Kindern, die mit ihren Mitteln als Gastwirtin, Imbiss und Spielhallen-Mitarbeiterin versucht alle durchzubringen. Ich sehe die Überforderung mit der Situation. Ich kann mich daran erinnern, wie ich mich dafür schämte, zu kleine Schuhe im Sportunterricht zu haben. Ich erinnere mich daran, wie ich sauer ich war, dass ich ein Skateboard nicht bekam. Ich kann mich daran erinnern, wie die Abschlussklassenfahrt auffiel – zum Glück mussten wir niemandem erzählen, dass das Geld nicht da war. Ich war im Vorfeld ausreichend in der Schule aufgefallen, dass ich ohnehin von der Fahrt ausgeschlossen war. Über meinen Zahnstand haben wir uns ja bereits zu Lebzeiten unterhalten…
Ich erinnere mich heute daran, wie gern ich als Stöpke Kreuzstich stach, während du wieder irgendwas aus unzähligen Wollknäueln stricktest. Ich erinnere mich daran, wie du mir das Leben gerettet hast, als ich es etwas zu gut mit der Verteilung der Elektrizität durch meinen Körper meinte und die 230V durch meinen Körper strömten. Es sind die Momente, wo du uns oder mich immer von irgendwelchen Partys abgeholt hast. Du hast all meinen Freunden Unterschlupf gewährt, auch wenn sie wochenlang geblieben sind. Ob nun Polizei, LKA, Gericht oder Zeugenaussagen – du hast alles auf deine Art mitgetragen. Ich hätte es zwar immer noch besser gefunden, wenn du zu den Terminen mitgekommen wärst, aber so lernte ich früh Verantwortung zu übernehmen. Du warst sicher sauer, es wurde auch mal laut, aber du warst nie nachtragend. Du warst es auch, die mir einen Zehner zugesteckt hat und Essen untergeschmuggelt hast, wenn ich in der letzten Woche des Monats mal wieder nicht wusste, wovon ich mich ernähren sollte. Ich bin für all das dankbar.
Ich hätte mir von vielen Dingen mehr gewünscht. Ich weiß heute, wie schwer es ist, Nähe, Liebe und Geborgenheit zu vermitteln, wenn man immer am Rande des Möglichen rangiert. Ich sehe heute die Herausforderungen, die Ausflüchte und das Handeln, was daraus resultiert. Ich finde nach wie vor nicht alles gut, aber ich habe meinen Frieden damit gemacht. Denn eines kann ich über dich ganz klar sagen: Du hast mich nie hängen lassen, auch wenn ich das manchmal anders empfand.
Ich werde sicherlich noch Zeit brauchen, um alles für mich zu verarbeiten. Ich bin dir ähnlicher als es mir je aufgefallen wäre. Mein Umgang mit Kindern ist fast identisch mit deinem Verhalten. Ich benutze intuitiv die gleichen Phrasen. Mein situativer Umgang erinnert mich an dich zurück, ich sehe auch die Situationen vor meinem geistigen Auge, wann du was, in welcher Situation sagtest. Ich musste erkennen, dass viel mehr von dir in mir steckt, als ich es für möglich gehalten oder wahrhaben wollte.
Ich habe kürzlich gelesen, dass eine emotionale Reaktion die Spiegelung der kindlichen Bezugsperson ist, wenn ich das korrekt wiedergebe. Du lebst also ein Stück in mir weiter.
Ich kann mich nicht revanchieren.
Mein Plan ist es, dir zu zeigen, dass ich nun verstehe.
Wir werden uns wiedersehen – aber jetzt noch nicht.
Danke für alles.
Ich hab dich lieb, Mama.
PS: Grüß bitte Ela.
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